Im Oktober 1957 kam ein neues Beruhigungs- und Schlafmittel auf den Markt mit dem Namen „Contergan“, angeblich „nebenwirkungarm“ und „gut verträglich“, um erst 5 Jahre später als eine der größten Skandale bezüglich Psychopharmaka des letzten Jahrhunderts aufgedeckt zu werden. Als Folge kamen 5000 bis 10000 Neugeborene mit schweren Fehlbildungen zur Welt. Hätte es damals bereits Facebook und Co gegeben, wäre dies früher aufgedeckt worden?
Die Zulassungsverfahrender neuen Medikamente ist ein komplizierter Weg mit vielen Hürden, Überprüfungen, Preisabstimmungen und Beurteilungen der Nutzen-Risiko-Verhältnisse. Hierzu sind die Nebenwirkungen und mögliche Spätfolgen gut zu dokumentieren. Nach diesem langen Weg und erst dann, wenn alle Kriterien erfüllt sind, kommt das Medikament auf den Markt. Es bleibt weiterhin unter Beobachtung ggf., wenn dennoch unerwartete Nebenwirkungen auftreten, kann die Zulassung des Medikamentes revidiert werden.
Unabhängig vom Misstrauen seitens der Antipsychiatriebewegung gegenüber Psychopharmaka, sollte man keinen Zweifel daran haben, dass die Sicherheit und Wirksamkeit jedes zugelassenen Medikamentes von der Zulassungsstelle die höchste Priorität hat. Das ist einer der wichtigsten Gründen, warum es seit Jahren nur vereinzelte Neuzulassungen bezüglich neu entwickelter Psychopharmaka gibt. Hierzu gehört z.B. Cariprazin (April 2018) oder – demnächst auf dem Markt - ein intranasales Antidepressiva.
Nichtsdestotrotz ist die Erfassung von neu aufgetretenen Nebenwirkungen eine langsamer bürokratischer Prozess. Von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft(AkdÄ) gibt es einen überschaubaren Meldebogen mit entsprechend gut aufklärenden Informationen, wie dieser zu handhaben ist. Ob Online oder per Post, sobald das Formular bei der AkdÄ angekommen ist, wird dies von ärztlichen Mitarbeitern diskutiert, danach von einem in betreffenden Gebiet qualifizierten Mitglied der AkdÄ fachlich bewertet, um erst im Anschluss in einer der regelmäßigen Konferenzen der AkdÄ vorgestellt zu werden. Nun folgen notwendige Maßnahmen, u.a. gehört dazu, Ärzte und Ärztinnen darüber zu informieren.
Eine direkte Meldung oder auch Anfragen beim herstellenden Pharmaunternehmen sind möglich. Erfahrungsgemäß ist dies aber kein schnellerer Weg, die Informationen an den Verbraucher, bzw. an den verordnenden Arzt zu bringen.
Ein wissenschaftliche Gruppe von der Stanford-University haben dies Frage in einer Publikation von 03.06.19 in “JMIR Public Health and Surveillance “ bejaht. Sie haben die Kommentare von Internetnutzer im Gesundheitsforum in Bezug auf drei Medikamente aus der Chemotherapie, nämlich Erlotinib, Nivolumab und Pembrolizumab, im Zeitraum von 2005 bis 2016 untersucht. Aus über 7 Millionen Kommentaren wurden ca. 70.000 Kommentare diese 3 Medikamente betreffend identifiziert. Es wurde „DeepHealthMiner“, eine lernendes neuronales Netzwerk-System, spezialisiert, um auf Texte über Nebenwirkungen in Verbindung mit bestimmten Medikamenten zu identifizieren und extrahieren, angewendet. Dabei fanden die Mitarbeiter der wissenschaftlichen Gruppe heraus, dass nicht nur ca. 90 Prozent der Nebenwirkungen aus der Literatur bei den Kommentaren identifiziert werden konnten, sondern auch die Häufigkeit der auftretenden Nebenwirkung war von Prozentzahl der aufgetretenen Fälle her ähnlich wie in die Literatur angegeben wurde. Das wichtigste hierbei und das ist auch der Grund, warum ich diesen Blog schreibe, ist die Tatsache, dass in der Internetpost Nebenwirkungen etwa 7 Monate vor der Veröffentlichung in der Literatur angegeben wurden.
Ein frühzeitiges Aufdeckung der Nebenwirkungen könnte vielen Patienten und Ärzten helfen, rechtzeitig zu handeln. Die Medikamente im o.b. Artikel sind zwar nicht direkt Psychopharmaka, solche pharmakovigilente Systeme könnten jedoch genauso gut auch in der Psychopharmakologie arbeiten und zwar in etwa so, wie oben beschrieben, viellicht sogar besser, da ich glaube, die aktivsten Internetuser in Gesundheitsforen sind diejenigen, die eigene Erfahrungen mit Psychopharmaka gemacht haben.
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