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Virtuelle Realität und Schizophrenie

Liron Pepshi • Dez. 27, 2019

Virtuelle Realität wird vermehrt in unserem Alltag angewendet. Ob dies zu der Zunahme schizophren erkrankter Patienten führen kann? Oder könnten die Patienten davon eher profitieren?

Patienten, die unter Schizophrenie leiden, haben oft verzerrte Wahrnehmung der Realität im Sinne einer eigenen „virtuellen Realität“. Diese „eigene virtuelle Realität“ kann Ähnlichkeiten mit virtueller Realität in Spielen oder Filmen haben. Zu den häufigsten Symptomen von Schizophrenie zählen Denkstörungen, Apathie, Wahnvorstellungen, Aufmerksamkeitsstörungen. Schizophrene Patienten entwickeln optische Halluzinationen, sie sehen also Dinge oder Personen, die es so gar nicht gibt. Noch häufiger entwickeln sie akustische Halluzinationen, sie hören also Stimmen, von denen sie sich gelenkt und gesteuert fühlen und von denen sie sich zu Handlungen verleiten oder von Handlungen abhalten lassen.

Es gibt unterschiedliche Annahmen über die Entstehung der Schizophrenie. Am wahrscheinlichsten scheint eine multifaktorielle Entstehung zu sein, u.a. durch genetische Prädisposition sowie strukturelle Veränderungen. Die ersten Zeichen einer Schizophrenie werden allerdings ausgelöst durch umgebungsabhängige Faktoren. Ob die Beschäftigung mit Computerprogrammen oder Spielen im Sinne einer „virtuellen Realität“ hier eine Rolle spielt?

Virtuelle Realität im Alltagsleben

Virtuelle Realität nimmt in unserem Alltag immer mehr zu. Längst ist sie nicht mehr auf Spiele und Filme beschränkt. Wir begegnen ihr beim Onlineshopping, beim Buchen von Reisen und Unterkünften, bei virtuellen Besichtigungen von Sehenswürdigkeiten, Museen oder Häusern, an denen wir interessiert sind. Selbst in der Medizin gibt es bereits Anwendungen virtueller Realität. Online-Chats mit Bots oder Avataren sind nur ein Beispiel. Computersimulationen von chirurgischen Eingriffen im Rahmen der Ausbildung in medizinischen Berufen sind weitere Anwendungen, die bereits erfolgreich eingesetzt werden.

Virtuelle Spiele verursachen keine Schizophrenie

Vermutungen, dass virtuelle Realität in Spielen oder anderer Form zu einer Zunahme von schizophrenen Erkrankungen führen könnte, haben sich nicht bestätigt. Da Schizophrenie multifaktoriell entsteht, wobei eine genetische Prädisposition der schwerwiegendste Faktor ist, kann der Umgang mit virtueller Realität, z.B. in Computerspielen, nicht als der alleinige Faktor einer Zunahme derartiger Erkrankungen in Frage kommen. Eine an der University of Cambridge durchgeführte Studie hat dies bereits bestätigt. Dort wurden 21 Personen mit erhöhten Risiko für neu auftretende Schizophrenie (u.a. kurze psychotisches Erleben in Vorgeschichte, Angehörige des 1. Grades an Schizophrenie erkrankt) im Alter vom16 bis 35 Jahren in die Studie einbezogen. Das virtuelle Umfeld war so projektiert, dass es den Innenbereich der Londoner U-Bahn spiegeln sollte. Durch eine kurze virtuelle Reise mit entsprechenden Avatar Charakteren wurde überprüft, in wie weit dies psychotische Symptome im Alltagsleben auslösen könnte. Bei keinem der Teilnehmer war eine Zunahme von psychotischem Erleben zu beobachten.

Avatar als vertrauter virtueller Therapeut

Bisher wurde Schizophrenie überwiegend medikamentös behandelt, vor allem mit stark potenten Neuroleptika. Solche Medikamente haben natürlich auch Nebenwirkungen, die für einen schizophrenen Patienten und für dessen Umfeld nicht angenehm sind. Der Erfolg der medikamentösen Behandlung hängt von vielen Faktoren ab, die ein Arzt nicht alleine steuern kann. Ein alleinlebender schizophrener Patient schafft es unter Umständen nicht, einen Medikamentenplan strikt einzuhalten. Wer chronisch Stimmen hört, die sein Verhalten beeinflussen, lässt sich vielleicht durch diese von der regelmäßigen Einnahme der Medikamente abhalten, wenn er glaubt, dass ihm die Stimmen dies untersagen. Studien im englischen Sprachraum zum Thema Anwendung virtueller Realität in der Behandlung von Schizophrenie und anderen Psychosen scheinen nun Anlass zur Hoffnung auf neue, erfolgversprechende Therapien als Alternative zur Medikation zu geben. So wurde zum Beispiel eine neue Methode, publiziert im „Lancet 2018“ , für Patienten, die unter chronischem und medikamentös resistentem Stimmenhören leiden, durchgeführt.

Die Stimmen, die der Patient ständig hörte und die ihn steuerten und lähmten, wurden einem Avatar zugewiesen. Im Laufe der Zeit gelang es dem Patienten, diese von Avataren repräsentierten Stimmen immer weiter zurück zu drängen oder sie ganz zu ignorieren. Nach 12 Wochen waren die durchgeführten Untersuchungsergebnisse deutlich besser als bei der Kontroll-Gruppe von Patienten, die während dieser Zeit nur mit Gesprächstherapie behandelt wurde.

Virtuelle Kommunikation als Zugangstor zum gesellschaftlichen Leben

Wer durch die Schizophrenie an normaler sozialer Interaktion gehindert ist und dadurch nicht regelmäßig am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann, schafft es womöglich eher, über einen Avatar, in virtueller Realität sozial zu interagieren. Hat ein Patient dies einmal geschafft, wächst sein Selbstvertrauen, er fühlt sich positiv bestätigt. Kommunikation in virtueller Realität kann für ihn zu einem Erfolgserlebnis werden, wie er es aus der eigenen, durch die Erkrankung wahrnehmungsgestörten Realität schon lange nicht mehr kennt. Das soziale Bewusstsein psychotischer Patienten kann so gestärkt werden, ihr Selbstwertgefühl verbessert werden, Ängste können reduziert oder ganz abgebaut werden.

Integration der virtuellen Therapie in bisher übliche, routinierte Behandlungsangebote

Die Angst, dass die vermehrte Anwendung der „virtuellen Realität“ in unseren Alltagsleben zu der Zunahme schizophren erkrankter Patienten führen wird,wurde durch die Studien nicht bestätigt. Vielmehr wurde gezeigt, dass virtuelle Realität therapeutisch nutzbringend eingesetzt werden kann. Der Einsatz von virtueller Realität und künstlicher Intelligenz in der Therapie von paranoiden und schizophrenen Erkrankungen wird neue Anforderungen an den Therapeuten stellen, aber auch neue Möglichkeiten für Anamnese, Diagnosefindung und Behandlung solcher und andere psychischer Erkrankungen eröffnen. Fortbildungen in diesem Bereich, insbesondere für angehende Psychiater, wären mehr als empfehlenswert.

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